Theaterproduktion „Kaspar Hauser“ - Erfahrungsbericht des Regisseurs

Autor: 上海歌德 Datum: Mi, 01/08/2020 - 15:37 Tags: Events

Autor: Dirk Steinmann

„Kaspar Hauser“ lautet der Titel unseres bereits sechsten Theaterprojekts am SLZ Goethe-Jinchuang.

Es ist die Geschichte jenes Findlings, der 1828 plötzlich auf dem Marktplatz von Nürnberg stand, der offenbar bis dahin die meiste Zeit außerhalb der menschlichen Gesellschaft gelebt hatte und kaum der Sprache mächtig war.

Um diese Figur rankten sich von Beginn an allerlei Legenden. Sein gewaltsamer und mysteriöser Tod im Jahre 1833 gab Anlass zu noch mehr Spekulationen, die bis in die Gegenwart fortdauern.

Der Regisseur Werner Herzog, eine der prägenden Figuren der Kultur im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten, hat Kaspar Hauser in seinem Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“ ein filmisches Denkmal gesetzt. Kaspar ist hier ein Träumer, der mit einer materialistischen, in einer verengten Rationalität gefangenen Gesellschaft so wenig anzufangen weiß wie diese mit ihm, und dessen gewaltsamer Tod zwar rätselhaft, aber am Ende auch unausweichlich erscheint.

Herzogs einfühlsam-hellsichtiges Drehbuch diente uns als Grundlage für unsere eigene Textfassung.


Im Mai 2019 begannen wir im SLZ in der Julu Lu mit den Proben.

5 Lehrer und ebenso viele Schüler trafen sich zunächst einmal wöchentlich.

Wir schauten uns Szenen aus Herzogs Film an, lasen das (sich im Probenverlauf immer wieder verändernde) Skript sowie Texte über den historischen Kaspar Hauser.

Während der Proben ging es vor allem darum, zeitgemäße Formen für die Figuren des Stückes zu finden: Aus den Biedermeier- Figuren 1) wurden so nach und nach Berliner bzw. Shanghaier Zeitgenossen: aus einem Offizier ein regeltreuer und ruppiger Beamter, aus einem Rittmeister ein Vorstadt-Stenz, aus einem gewissenhaften Schreiber eine unterkühlte und pedantische Sekretärin usw.

Um uns der rätselhaften Figur Kaspar Hausers anzunähern, vergaben wir die Rolle an zwei Darsteller: Den noch „sprachlosen“ frühen Kaspar Hauser übernahm ein junger chinesischer Deutschlerner (Xu Chengzhong), den in der Gesellschaft angekommenen Kaspar ein Deutschlehrer des SLZ (Martin Kuroczik).

An Kaspar interessierte uns vor allem die Situation des Außenseiters und „Exoten“, der der Schaulust und Grausamkeit seiner Mitmenschen ausgeliefert ist. Anfangs stellt man ihn in einer Jahrmarktsbude neben anderen Kuriositäten zur Schau. Ein Budenbesitzer (Ebru Pariltan) preist ihn als „Sensation Europas“ und ermutigt die Zuschauer dazu, sich mit ihm fotografieren zu lassen..

Unter den Augen einer interessierten Öffentlichkeit lernt Kaspar gehen, essen, sprechen, wird so zu einer Art „Medienstar“ seiner Zeit und ist zunehmend mit dieser Rolle überfordert.

Als Theatergruppe eines Sprachlerninstitus war für uns natürlich der Prozess des Spracherwerbs von besonderem Interesse: Kaspar lernt die Sprache wie ein Ausländer, der ohne Sprachkenntnisse in ein Land kommt. Kinder bringen ihm die ersten Wörter und Sätze bei.

Nach zwei Jahren kann er sich mühelos verständigen, lebt aber weiterhin in einer anderen, eigentlich außersprachlichen Welt, in der Gedanken und Gefühle, Realität und Träume nicht deutlich voneinander geschieden sind, ein Sonderling, dessen Äußerungen oft Verwunderung auslösen, und den in der Gesellschaft von Menschen meist Unwohlsein überkommt.

Das Wunderliche dieser Figur haben wir noch verstärkt: So riecht unser Kaspar, wenn er Inspiration sucht, an seinem „Zauberapfel“, dessen Duft ihm unfehlbar zu guten Ideen verhilft. 2)

Die insgesamt ca. fünfundzwanzig Rollen wurden allesamt von den zehn Darstellern und Darstellerinnen übernommen, die manchmal in kurzer Abfolge zwei oder drei Rollen hintereinander spielten.

Um das Stück für eine heutige Wahrnehmung zu öffnen und verschiedene Spielebenen zu schaffen, spielten wir während der Proben viel mit Klischees des Kinos, vor allem des Western und des Kriminalfilms. So wird etwa Kaspar Hauser von einem unbekannten Mann mit einem breitkrempigen Hut, wie man ihn aus Western kennt, nach Nürnberg gebracht (Markus Seitz). Dazu erklingt das Gitarrenriff aus Jim Jarmuschs Western „Dead Man“, das zu einem musikalischem Leitmotiv unserer Aufführung wurde.


Die letzten zwei Wochen einer Theaterproduktion sind gleichsam die Countdown-Phase, in der man spürt, wie die Uhr tickt, und die Zeit langsam knapp wird.

Wir probten nun zwei bis dreimal wöchentlich.

Zusammen mit der Lichtdesignerin Christie (Absolventin der Theaterakademie in Shanghai) entwarfen wir ein minimalistisch-einfaches Bühnenbildkonzept, das auf die Bühne im „Theater auf dem südlichen Campus“ der Tongji-Universität zugeschnitten war. Die wichtigste Eigenschaft dieses Bühnenbilds, das vor allem aus ca. einhundert Seilen und sieben graulackierten Holzkisten bestand, war seine Wandelbarkeit: durch verschiedene Lichtstimmungen konnte es einen Wald, eine Stadt, das Innere einer Wohnung oder auch einen Jahrmarkt darstellen.

Kostüme und Requisiten kauften wir wie schon in den letzten Jahren überwiegend bei Taobao und in der Qipu Lu.

In den letzten Tagen vor der Aufführung drehten wir noch ein kleines Schwarz-Weiß-Video, inspiriert von Kriminalfilmen der „Schwarzen Serie“ , das die Ermordung des Titelhelden zeigt: Ein mysteriöser „Contract Killer“ (Markus Seitz) erhält den Auftrag, Kaspar aus dem Weg zu räumen. Nach einer Taxifahrt durch die Hochhausschluchten der Metropole findet er ihn an einem verschwiegenen Örtchen in den oberen Etagen eines Bürohauses und ermordet ihn kaltblütig.

Alle Darsteller waren bis zuletzt mit viel Engagement und Talent bei der Sache! Am 7. und 8.12.2019 führten wir das Stück zweimal mit Erfolg auf dem Campus der Tongji-Universität auf.

Besonderer Dank für sehr großzügige und tatkräftige Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Projekts gilt dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Shanghai sowie dem Chinesisch Deutschen Campus an der Tongji Universität.

1) Die Kunst- und Kulturepoche zur Zeit Kaspar Hausers nennt sich Biedermeier. Ihr bekanntester Vertreter in der Malerei ist Carl Spitzweg.

2) Angeblich lagerte der deutsche Dichter Friedrich Schiller in einer Schublade alte faulige Äpfel. Ihr Duft regte ihn zum Schreiben an.